der wicht

einst wollt' ich eine mauer bau'n,
schön bunt und herrlich anzuschau'n
für alle, die vorübergeh'n
und in der eile nicht viel seh'n.

die arbeit ging recht flott voran
und wenn jemand vorüberkam,
nahm ich geschwind noch einen stein,
um ja recht gut versteckt zu sein.

bald war ein wall daraus geworden,
dahinter fühlt' ich mich geborgen
vor streit und oberflächlichkeit
und all dem wahnsinn uns'rer zeit.

mein versteck war gut bewacht,
ein stacheldraht war angebracht
und jeder, der mir nahe kam
- ätschipätsch! - der stach sich dran!

so wichen mir stets alle aus,
ich machte mir nicht viel daraus,
ich lebte einfach froh dahin,
nichts böses kam mir in den sinn.

doch ein besonders dreister wicht,
der gab mir keine ruhe nicht,
der hat so lang an mir gerüttelt,
bis meine mauer abgebröckelt.

ich hatte nichts mehr rundherum,
das mich beschützt - was sollt' ich tun?
da hab' ich's mit vertrauen probiert
und mich den menschen offeriert.

man staune nun, was dann geschah,
denn plötzlich, wirklich sonderbar,
sah ich die welt in andrem licht,
ich dachte mir, das gibt's doch nicht!

mit lachen und mit ehrlichkeit,
geduld, verständnis, offenheit
zog ich fortan durch's leben,
freundschaft war mein streben.

das klingt ja alles wunderbar,
doch lies einmal, was dann noch war ...
denn mitten in mein hochgefühl
kam's, dass ich auf die nase fiel.

der wicht - du kannst dich noch erinnern? -
fing seinerseits nun an zu zimmern:
ein mäuerchen aus eitelkeit,
distanz und "habe keine zeit".

mein streben ging den bach hinunter,
eh' ich ertrank, wurde ich munter
und lebe nunmehr sorgenfrei:
das mit dem wicht, das ist vorbei.

nun fragst du dich, wie ich es schaffe,
dass ich jetzt darüber lache?
du denkst, ich müsste traurig sein,
doch fällt mir das im traum nicht ein!

wer meine freundschaft missversteht
wie dieser wicht, um den's hier geht,
wer sich dadurch verpflichtet fühlt,
der hat sie einfach nicht verdient!

der wicht, so leid's mir für ihn tut,
bewies am ende nicht den mut
zu leben, was er selber predigt -
womit das thema sich erledigt.

und die moral von der geschicht:
vertraue niemals einem wicht!
bau' keine mauern, sei du selbst,
dann weißt du, dass du niemals fällst!



© e.m. florian | 10.93